von Eckhard Lange
"Informationsprodukte auf dem Prüfstand" hieß das Generalthema der diesjährigen Frühjahrstagung der Medienarchivare und Mediendokumentare (Fachgruppe 7 im VdA) in Ravensburg. Schon der Blick darauf, was alles als Informationsprodukt in Frage kommt, öffnet ein weites Feld. Es reicht von zunächst für "unnütz" gehaltenen Papieren - eine solche Klassifikation gab es tatsächlich im Berner Staatsarchiv - und audiovisuellen Strandgut-Schnipseln bis zu aufwendig zubereiteten Contents im Internet, von den akribisch recherchierten und redigierten Faktendatenbanken des Munzinger-Archivs bis zum "Netzwerk Mediatheken in Deutschland", das den Ehrgeiz hat, Portal zu fast jeder Art online verfügbarer Medien-Information zu sein.
Nahezu 250 Teilnehmer waren bei frühlinghaftem Wetter in die verkehrstechnisch etwas abseits gelegene Oberschwaben-Metropole angereist. Sie erlebten nach den Worten des neuen Fachgruppenvorsitzenden Hans-Gerhard Stülb trotz dieses Andrangs das familiärste aller seit 1960 abgehaltenen Frühjahrs-Treffen. Dafür sorgte die einladende Firma Munzinger, die sich angesichts ihres kommenden 90jährigen Jubiläums und des gerade gefeierten 80. Geburtstags ihres "Patriarchen" Dr. Ludwig Munzinger mit allem engagierte, was Munzinger-Familie (anwesend in drei Generationen!) und Munzinger-Belegschaft hergaben. Das setzte ein bei der historischen Stadtführung mit Dr. Alfred Lutz und endete erst bei der letzten Besichtigungstour in Schloss Wolfegg - stets war man begleitet von einem "Munzinger".
Stärker als sonst in die Tagung integriert waren die Aussteller, die ja auch ihre Informationsprodukte "auf den Prüfstand" stellten. Ein eigener Tagungsblock gab ihnen Gelegenheit, sich in kurzen Statements zu präsentieren. Die Frühjahrstagung der Fachgruppe 7 wird für Aussteller offenbar immer interessanter: Was in der Branche 'Medien- und Faktendatenbanken' Rang und Namen hat, war in Ravensburg vertreten.
Bei der Eröffnung der Tagung durch den Fachgruppenvorsitzenden und die Grußredner wurde die Thematik eines solchen Fachkongresses aus je verschiedenem Blickwinkel bereits angerissen. Während Bürgermeister Hans Georg Kraus neben die 850jährige Markt-Geschichte Ravensburgs die Papiermacher-Tradition dieser Stadt stellte und auf die Lehreinheit "Neue Medien" an drei Fachhochschulen verwies, ließ es Ernst Munzinger humorig angehen mit der Bemerkung, nun müsse man als Einladender seine Produkte auch noch gleich "prüfen lassen". Der stellvertretende VdA-Vorsitzende Dr. Hans Ammerich verband "den Abschied von der absoluten Schriftlichkeit" auch in den staatlichen Archiven mit laufenden DFG-Projekten, die als Brückenschlag zwischen Archivaren und Dokumentaren, zwischen Staats- und Medienarchiven dienen könnten.
Traditionell fachübergreifend war der Eröffnungsvortrag von Prof. Dr. Thomas Hengartner, Volkskundler an der Universität Hamburg und soeben erst durch den renommierten Leibniz-Preis ausgezeichnet. Nach Hengartner haben Archivmaterialien, wie sie Medien produzieren, eine enorme Aussagekraft für die Alltagskultur, gerade wenn sie als "unnütz" oder als Strandgut klassifiziert würden. An Beispielen wie Tschernobyl, dem Golfkrieg und dem 11.September zeigte der Volkskundler auf, dass "das, was aus einem Ereignis gemacht wird, für die Alltagskultur häufig wichtiger ist als das Schlüsselereignis selbst." Kulturwissenschaftler seien deshalb "hochgradig interessiert" an einer Mitwirkung bei der Bewertungspraxis in Medienarchiven - in dieser Funktion eher potentielle Partner als Nutzer. Hengartner beklagte in diesem Zusammenhang das Fehlen einer Hinterlegungspflicht bei AV-Medien als einen Anachronismus.
"Syndication" war ein anderer Tagungsblock am Montagnachmittag überschrieben, womit im wesentlichen das Geschäft der Zweitverwertung von "Contents" in Medienarchiven gemeint war. Dr. Bertold Heil von der Gruppe PwC Deutsche Revision, Düsseldorf, stellte das Geschäftsmodell dieses Beratungsunternehmens vor. PwC hat rund 11.000 Mitarbeiter, ein Umsatzvolumen von rund 1,4 Milliarden EURO und ist an rund 40 Standorten in Deutschland vertreten. Hier wie auch in den beiden anderen Referaten des Blocks - mit Philipp Berens von der Verlagsgruppe Milchstraße, Hamburg, und Jürgen Albert von der Ideenkapital AG, Düsseldorf - ging es um "recycelte Kreativität", die Beratungs- und Finanzdienstleister aus redaktionellen Inhalten gewinnen können. Dagegen stellten Axel Bundenthal (ZDF, Mainz), Ruth Haener (NZZ, Zürich) und Phillipp Diekmeyer (WDR, Köln) die Nutzung der Internet-Technik für die hausinterne Informationsversorgung durch Medienarchivare in den Vordergrund. Anschaulich machte Bundenthal auf den Unterschied zwischen dem "anarchisch von unten gewachsenen" Internet und dem "hierarchisch von oben kontrollierten" Intranet aufmerksam, während Ruth Haener das seit 1992 digital aufgebaute NZZ-Archiv mit Nachdruck als "Cost-Center" verteidigte, dem genügend Zeit für Kundenanbindung zur Verfügung stehen müsse. Diekmeyer betonte in seinem Beitrag die Wichtigkeit einer Informationsarchitektur, die in ein Archivportal, wie es im WDR zur Verfügung stehe, verschiedene Türen zur Multimedia-Information einbauen müsse.
Am Dienstagvormittag konnten die Teilnehmer den Weg von zunächst gratis angebotenen Informationen aus Zeitungsarchiven zu mehr und mehr kostenpflichtigen Dienstleistungen verfolgen. Die "kontra Informationsgeschenke" gerichtete Philosophie des Munzinger-Archivs, eines der ersten kommerziellen Angebote schon vor dem digitalen Zeitalter, wurde vom Firmenchef Ernst Munzinger selbst vorgestellt, während die redaktionelle, dokumentarische und technische Arbeit, die zum Informationsprodukt der Faktendatenbank "Internationales Biographisches Archiv" führen, von Bernhard Ziegler im anschließenden Block erläutert wurde. Einem - freilich etwas dürftig ausgefallenen - Trendbericht über "Zeitungarchive im Internet - auf dem Weg vom Gratisangebot zur Einnahmequelle" konnte man entnehmen, dass als Kunden für solche Angebote vorwiegend Unternehmen oder vielleicht noch semi-professionelle Nutzer in Frage kommen, nicht aber private. Konsequent geht diesen Weg in die Unternehmen die schon seit längerem "outgesourcte" Gruner+Jahr-Dokumentation in Hamburg, deren digitale Archivdienstleistungen Martin Borek vorstellte.
Den Unterschied zwischen einer auf möglichst seriöse und verifizierte Information fußenden und einer dem Boulevard-Interesse dienenden Faktendatenbank machte in schöner Offenheit Jantje Bruns vom Axel Springer Verlag deutlich. Hier wird die biographische Information aus der Yellow-Press selbst geholt und bezieht sich nicht zuletzt auf Amouren und Krankheiten der Prominenten (z.B. auch auf die zahlreichen "Partnerinnen" eines amtierenden Ministerpräsidenten), und da wird auch, anders als bei Munzinger, nirgends nachgefragt. Die Aufbereitung von ganz und gar harten Fakten präsentierte dagegen Ulrich Behling mit seinen volkswirtschaftlichen Zeitreihen aus der Abteilung Information & Research der Verlagsgruppe Handelsblatt.
Die parallel angebotenen Workshops des Dienstagnachmittags konnten vom Berichterstatter nicht gleichzeitig besucht werden. Mit der digitalen Video-Archivierung, die im Workshop "Film & Video" von Ronald Jochmann und Kirsten Schade (Axel Springer TVNews) sowie von Heike Schweigert (Fernseh Allianz, Hamburg) und Jörg Wehling (SWR, Baden-Baden) vorgestellt wurde, beschäftigte sich die Fachgruppe 7 schon in früheren Jahren in der jeweiligen AG Multimedia. Hier war zu hören, dass die noch Ende der 90er Jahre von Vertretern der Industrie ziemlich euphorisch vorgetragenen Zukunftsvisionen angesichts der immensen Digitalisierungskosten im Videobereich einer eher gedämpften Betrachtung gewichen sind. Immerhin hat die Archivierung von Videomaterial in Ansichtsqualität ihre technische Probe bestanden, und gerade kleinere Videoarchive speisen sich offenbar günstig aus dem digitalen Produktionsprozess.
Aus dem Workshop "Bild - Zukunft im Bildermarkt" war zu erfahren, dass trotz steigender Nachfrage nach Bildern das Agentursterben weitergehen werde. Thomas Raupach (Raupach Consulting, Hamburg) beleuchtete diese Zukunft und Dr. Erich Weinreuter befasste sich mit dem Trend der Kommerzialisierung bei öffentlich-rechtlichen Bildarchiven. Öffentliche Bildarchive leben inzwischen - durch Honorar-Angleichungen - in Koexistenz mit den kommerziellen Agenturen und kooperieren sogar miteinander. Generell gute Chancen haben offenbar Spezialagenturen.
Im Mittelpunkt des Workshops "Print - Regionalzeitung & Archiv" stand eine Podiumsdiskussion zwischen Klaus von Prümmer (ifra, Darmstadt) und den Chefredakteuren der Schwäbischen Zeitung, Joachim Umbach, des Südkurier Konstanz, Werner Schwarzwälder, und der Leonberger Kreiszeitung, Karl Geibel. Die Frage "Brauchen Zeitungen ein Archiv?" wurde dabei durchweg positiv beantwortet. Unterschiedlich war die Einschätzung, ob dafür eine eigene Archivabteilung nötig sei. Die Befürchtung, dass bei anhaltenden Verlusten in Presseverlagen der Rotstift zuerst bei den Archiven angesetzt würde, konnte nicht aus dem Weg geräumt werden. Immmerhin würde der Südkurier-Chef zuerst in den Redaktionen nach Einsparpotential suchen, bevor er das Archiv schließen würde.
Noch einmal spannend wurde es am Mittwochmorgen, als - etwas abseits vom Schwerpunktthema - die Fortschritte bei der automatischen Indexierung beleuchtet wurden. Dr. Thomas Kamphusmann vom Fraunhofer-Institut für Software- und Systemtechnik, Dortmund, stellte "Textmining" vor, Michael Weniger von der Berliner Zeitung und Jürgen R.Paulus von der Firma GadT die Software "Grammatikalische Analyse deutschsprachiger Texte" und Waltraut Wiedermann von der Austria Presseagentur APA, Wien, die automatisierte Beschlagwortung von Volltextdaten mit Mr. Cat, wohinter sich das Programm "Morphological Reduction Categorizer" verbirgt. Alles linguistische Verfahren, die irgendwann einmal den erschließenden Dokumentar ersetzen sollen, dieses aber solange nicht können, solange jemand für die Korrektur offenbar nicht auszurottender Erschließungsfehler und für die Feinerschließung gebraucht wird. Der journalistischen Sprache in ihrer ganzen, fernab jeder linguistischen Berechenbarkeit liegenden Kreativität ist offenbar "automatisch" nie ganz beizukommen.
Am Schluss der Tagung gerieten noch einmal das Internet und dafür erbrachte medienarchivarische Dienstleistungen ins Blickfeld. Die Initiative "Netzwerk Mediatheken in Deutschland", die mittlerweile ein Portal für fast alle multimedialen Online-Dienste der Bundesrepublik öffnet, von der ZKM in Karlsruhe bis zu den Filmarchiven in Berlin, wurde von Dr. Dietmar Preißler und Claudia Wagner vom Haus der Geschichte in Bonn vorgestellt. Und Hans Peter Trötscher von der F.A.Z. zeigte auf, wie weit der Internet-Service der Frankfurter Allgemeinen Zeitung entwickelt ist und auf welchem Wege man Zugang dazu erhält. Die Zusammenfassung der gesamten Tagung oblag am Ende dem Fachgruppenvorsitzenden Hans-Gerhard Stülb, eine erstaunliche Leistung, wenn man bedenkt, dass dieses Informationsprodukt erst während der letzten Vorträge am Tagungscomputer erstellt werden konnte.
Als Fazit ist festzuhalten, dass die Ravensburger Frühjahrstagung gewiss allen Teilnehmern in angenehmer Erinnerung bleiben wird. Dafür sorgten eine hervorragende inhaltliche Vorbereitung durch den Programmkoordinator Prof. Dr. Ralph Schmidt, FH Hamburg, eine organisatorische Glanzleistung der Fa. Munzinger, eine zügige Durchführung durch die jeweilige Moderation, die sich die neuen Vorstandsmitglieder der Fachgruppe teilten, ein geselliges Rahmenprogramm mit einem unterhaltsamen und kulinarischen Abend in der Zehntscheuer und nicht zuletzt die schöne Atmosphäre der vom späten Mittelalter geprägten Stadt Ravensburg, deren Oberbürgermeister Hermann Vogler es sich nehmen ließ, beim Rathausempfang die Stadträte aus dem Sitzungssaal zu bitten und den Tagungsteilnehmern ohne jede informationstechnische Hilfe einen kommunalpolitischen Exkurs der Extraklasse zu bieten.
01.03.2009